Zwischen Todesangst und Hoffnung: Wie eine Lungentransplantation Semihs Leben rettete

Wenn Semih Caliskan heute tief durchatmet, spürt er etwas, das für andere selbstverständlich ist – für ihn aber ein Geschenk: Luft, die durch seine Lunge strömt. Seitdem der 32-Jährige auf die Welt kam, lebte er – ohne es wirklich zu wissen – mit einer halben Lunge. Jahrzehntelang bleibt das unentdeckt – bis ihn ein Infekt ans Bett fesselt. Und bis zu jenem nächtlichen Anruf im Krankenhaus, der den Beginn eines neuen Lebens markiert.

Ein unentdeckter Begleiter seit der Kindheit

Semih kommt in Köln zur Welt. Schon als Säugling trägt er in sich eine stille Schwäche: Eine Lungenhälfte entwickelt sich nicht richtig – vermutlich als Folge einer nicht ausgeheilten Lungenentzündung im Babyalter. Doch niemand merkt etwas. Auch nicht Semih selbst. Er wächst auf, macht Sport, geht zur Schule, beginnt zu studieren. Rückblickend wundert er sich, wenn er an den Sportunterricht zurückdenkt: „Ich konnte nie lange laufen. Die Sprints gingen immer gut, beim Ausdauerlauf war ich aber immer der Letzte der Klasse.“ Auf Nachfrage bei Ärztinnen und Ärzten heißt es daraufhin immer, dass es keinen Grund zur Sorge gebe.

Mehr als bloße Erschöpfung

Was beim Fußballtraining schnell als Faulheit abgestempelt wird, ist nicht der Wille, der Semih fehlt – es sind die Luft und Energie. Mit Mitte 20 kommt es dann zu ersten Problemen, doch auch die schiebt Semih gedanklich nach hinten, findet Ausreden, um sich nicht durchchecken lassen zu müssen. 

Seine Bronchien sind zu dieser Zeit schon krankhaft ausgeweitet – sogenannte Bronchiektasen (sackartige Ausweitungen der Atemwege), bei denen der Schleim nicht richtig abtransportiert wird. Dazu kommen Vernarbungen auf dem Lungenflügel durch eine allergische Reaktion auf Schimmel in seinem Jugendzimmer. Als wäre das nicht genug, verengt seit der Kindheit eine sogenannte Trichterbrust seinen Brustkorb – und damit das ohnehin eingeschränkte Lungenvolumen noch weiter. Dennoch bleibt der große Zusammenbruch lange aus.

Ein Körper, der nicht länger schweigt

„Ich war froh, dass ich es nicht wusste“, sagt Semih heute. „Sonst hätte ich nicht so frei leben können.“ Erst mit Mitte 20 beginnt sein Körper, deutlicher zu sprechen. Er wohnt zu dieser Zeit in Siegen und studiert. Die hügelige Umgebung macht ihm zu schaffen, er sei die Berge innerhalb der Stadt nicht mehr hochgekommen. Er erschöpft merklich schneller, kann sich beim Studieren kaum noch konzentrieren und wacht eines Nachts auf: „Rückblickend hat mir mein Körper da das Zeichen gegeben: ‚Du bist krank‘. Ich bin schweißgebadet aufgewacht und hatte Todesangst, Angst vor dem Tod. Aus dem Nichts. Ich konnte nicht mehr schlafen.“

Semih gerät an die Grenzen seiner Kräfte

Als die Welt 2020 durch Corona für einen Moment stehen bleibt, muss der Kölner seinen Studentenjob verlassen und arbeitet von da an in einem Baumarktlager. Dort schleppt er viele schwere Kisten und Produkte – eigentlich ist er dafür schon zu schwach, bis ihn ein Infekt endgültig zusammenbrechen lässt.

Er muss sofort ins Krankenhaus, wird dort erst einmal mit Cortison vertröstet, welches er inhalieren soll und nach Hause geschickt. Eine andere Ärztin allerdings reagiert geschockt: Semihs Befund ist ernster als gedacht, woraufhin ein Reha-Aufenthalt eingeleitet wird. Von einer Transplantation ist zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht die Rede. Als die Reha-Maßnahmen nicht anschlagen, wird ein weiterer Arzt deutlicher: Eine Lungentransplantation sollte in Betracht gezogen werden.

„Ab diesem Moment war ich im absoluten Überlebensmodus. Ich war fast bettlägerig und ständig am Sauerstoffgerät angeschlossen“, erinnert sich der Kölner. Drei aneinandergeschlossene Schläuche, die vom Zimmer in die Küche führen – sie sind Semihs Verbindung zur Welt. Der Weg zum Esstisch ist ein täglicher Kraftakt. Selbst Fernsehserien oder Filme kann er nicht mehr schauen – sein Kopf ist zu müde, um den Handlungen zu folgen. Stattdessen laufen Kindersendungen im Hintergrund. 

Ein Wendepunkt mit drei Möglichkeiten

Anfang 2022 geht Semih dann zu einer Routineuntersuchung. Seine Blutwerte sind so schlecht, dass die Ärztinnen und Ärzte ihn stationär aufnehmen müssen. Es ist der Moment, in dem sich seine Perspektive verschiebt. „Ich hatte keinen Hoffnungsschimmer mehr. Ich habe mich ehrlich gesagt schon auf den Tod vorbereitet“, so Semih. 

Die Ärztinnen und Ärzte aber machen ihm Mut. Anfang März wird er nach zahlreichen notwendigen Untersuchungen offiziell auf die Transplantationsliste gesetzt. Etwa vier Wochen später, am 5. April 2022, klingelt nachts um 23 Uhr das Telefon im Krankenhaus: Ein passendes Organ ist gefunden. 

Am nächsten Tag liegt er bereits im Operationssaal, während um ihn herum alles im Delirium verschwimmt, doch ein Gedanke bleibt klar: „Es gibt jetzt drei Optionen: Entweder ich werde transplantiert und es beginnt ein neues Leben oder das Organ ist nicht gut genug und ich wache wieder auf und die dritte Option ist: Ich überlebe die OP einfach nicht. Aber alles ist besser, als dahin zu vegetieren.“

Nun zu denken, Semih habe die Augen aufgeschlagen und einen tiefen Atemzug getätigt, bringt den 32-Jährigen zum Schmunzeln. „So einen Moment gab es nicht“, erinnert er sich. Stattdessen folgt ein langer Kampf samt Koma und künstlicher Ernährung. Sein Körper reagiert mit einer akuten Abstoßung, und über Wochen schwebt er zwischen Hoffnung, Überlebenskampf und Rückschlägen. Doch er gibt nicht auf – und im Sommer 2022 ist er schließlich stark genug, um eine Reha zu beginnen.

Dieses Bild zeigt Semih in einer Nahaufnahme beim Interview.

Zukunft mit Fragezeichen

Als Semih nach der Reha das erste Mal wieder richtig essen kann, liegen pürierter Fisch mit Kartoffelpüree auf dem Teller. „Und das war das Geilste, was ich je gegessen habe“, sagt er – ohne Ironie, aber mit einem großen Grinsen. Ein Moment, in dem klar wird: Das Leben kehrt zurück, langsam, aber mit Kraft.

Doch während sich der Körper erholt, bleibt der Kopf zurück. „Alle sagen: Du hast überlebt – jetzt mach was draus“, so Semih. Doch der junge Mann fühlt sich nicht befreit, sondern erschlagen von der Wucht dessen, was hinter ihm liegt. Und dem, was jetzt vor ihm liegt. „Ich wollte einfach nur im Bett liegen, die Decke über den Kopf ziehen und in Ruhe verstehen, was das jetzt alles bedeutet“, sagt er. Es dauert Wochen, bis er aus diesem Zustand auftaucht – bis der Wunsch wiederkommt, etwas zu schaffen, sich etwas vorzunehmen.

In der Zwischenzeit passiert bei anderen das Leben im Zeitraffer: Freundinnen und Freunde heiraten, bekommen Kinder. Semih fragt sich: Gehört das auch noch zu meinem Leben? Kann ich überhaupt noch Vater werden? Will ich das?

Dankbarkeit für das Gewöhnliche

Ein Neuanfang kommt, als er sein Studium fortsetzt und in eine WG zieht– zu Menschen, die seine Krankheitsgeschichte nicht kennen und ihm einen großen Schubser in Richtung Normalität geben.

Hinzu kommen Kleinigkeiten, die plötzlich riesengroß erscheinen. Eine warme Dusche. „Und wie lecker Essen sein kann“, sagt er und lächelt. „Dinge, die du als gesunder Mensch kaum noch wahrnimmst.“ Auch wenn vieles nicht so selbstverständlich möglich ist wie bei anderen 32-Jährigen, ist Semih dankbar für seine geschenkten Lebensjahre. Klar, von der großen Sportlerkarriere müsse er sich verabschieden, ergänzt er mit einem Augenzwinkern. Er wolle sich auf das Reisen konzentrieren, Menschen aufklären und ihnen näherbringen, wie wichtig die Organspende ist – immerhin sei er eines von vielen Beispielen.

Was er sich wünscht? Möglichst lange gesund zu bleiben. Mit viel Glück und viel Liebe. Das, was lange unerreichbar schien: „Ein ganz normales Leben – so normal, wie es eben geht“, sagt er.

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