Lucas Welsch: „So wie ich jetzt lebe, fühlt es sich an wie leben“

Lucas Welsch ist 21 Jahre alt und Empfänger einer Gewebespende. In der Zeit nach der Schule – die für viele in seinem Alter mit Aufregung, Spaß und neuen Erlebnissen gefüllt ist – erlebt der aufgeschlossene und lebensfrohe junge Mann, wie sich innerhalb von Sekunden sein komplettes Leben veränderte. Nach inzwischen 25 Operationen nimmt der 21-Jährige die Welt anders wahr als zuvor.

Eine Silvesternacht mit Folgen

Es ist die Silvesternacht 2022. Eine Neujahrsnacht, wie jede andere, in der Lucas mit seinen Freundinnen und Freunden ausgelassen feiert. Die Gruppe ist aufgeregt, gleich beginnt das neue Jahr und alle freuen sich darauf, gemeinsam in den 1. Januar zu starten. Doch dazu kommen, soll es nicht. Eine Silvesterrakete, Funken eines sogenannten „Römischen Lichts“, geraten in eines seiner Augen und zerstören sein Sehvermögen auf der linken Seite. „Der Moment, als ich merkte, dass mein Auge verletzt ist, war wirklich ein Schock“, erklärt Lucas. Nachdem er zunächst versucht, die brennenden Funken selbst zu entfernen, wird ihm schnell klar, dass er dringend medizinische Hilfe benötigt. Im Krankenhaus angekommen, gehen ihm vor allem seine Eltern und deren Sorgen durch den Kopf.

„Als ich im Krankenhaus angekommen bin, lag ich erstmal auf einer Liege. Ich hörte neben mir nur die ganzen Kinder schreien, […] Mütter weinen und wusste gar nicht, wie lange ich selbst hier liegen muss.“ 

Auf lustig“ lädt er an diesem Abend ein TikTok-Video hoch, was ihn vor seiner ersten Operation auf dem Krankenbett zeigt. Über Nacht geht sein emotionales Video viral und der damals 18-Jährige erreicht eine Aufmerksamkeit, die er selbst so nicht kannte. „Ich wache 10 Stunden später auf, […] und habe 10.000 Benachrichtigungen auf TikTok“, erinnert er sich. Das Video bekam in kürzester Zeit vier Millionen Aufrufe und wurde von Musikerinnen und Musikern sowie Influencerinnen und Influencern geteilt und kommentiert. 

Ablenkung statt negativer Gedanken

Diese Aufmerksamkeit lenkt Lucas ab und hilft ihm durch die schwere Zeit. „Ich selbst bin ein sehr glücklicher und positiver Mensch, das bin ich auch noch“, erklärt der 21-Jährige. TikTok hilft ihm damals beim Reflektieren und bewahrte ihn vor negativen Gedanken und dem Abrutschen in eine Depression. „Ich habe gemerkt, dass es immer schlimmer geht,“ erkennt Lucas, während er wochenlang im Krankenhaus liegt und nicht weiß, ob eine Chance auf Heilung besteht. Er fängt an, seinen Unfall mit anderen zu teilen und ihnen einen Ort zu geben, an dem sie sich über eigene Erfahrungen austauschen können.

Zu sehen ist eine Nahaufnahme von Lucas Welsch. Er sitzt und lacht an der Kamera vorbei.

TikTok-Videos als Sprachrohr für seine Geschichte

„Es ist mir passiert, damit ich anderen helfen kann, besser mit sich selbst umzugehen“, weiß der 21-Jährige inzwischen.

Neben den positiven Momenten, die er durch TikTok sammelt, gibt es auch dort Menschen, die seine Geschichte und Lebensart nicht verstehen. Doch Lucas‘ Mission ist es, seine Zuschauerinnen und Zuschauer zu motivieren und ihnen Lebensfreude zu vermitteln – dabei blendet er die negativen Kommentare aus.

Seine Lebensziele als Fünf-Jahresplan

Dennoch gibt es auch für ihn Momente, in denen er sich denkt: „Warum ich? Warum mir?“ Viel darüber zu reden, hilft ihm, seine Zweifel zu verdrängen. Zusätzlich setzt sich Lucas einen Fünf-Jahresplan mit neuen Zielen. Dieser hält ihn am Leben, motiviert ihn und macht ihm Mut. „Man kann nur sich selbst helfen“, ist er sich sicher.

Die Gewebespenden als Hoffnungsschimmer

Neben seinen selbst gesetzten Zielen, hat auch die Gewebespende geholfen, ihn ein Stück zurück zu seinem normalen Leben zu bringen. Insgesamt erhält er mehrere Amnionmembran-Transplantationen und zwei Hornhaut-Transplantationen.

Gut zu wissen

Was ist die Amnionmembran-Transplantation (AMT)?

Die Amnionmembran ist die innerste Haut der Fruchtblase. Sie umhüllt den Embryo während der Schwangerschaft. Die Zellen der Amnion sind wundheilungsfördernd, weshalb die Medizin sie für Hautdefekte nutzt. Die AMT ist ein spezialisiertes Verfahren, welches heutzutage für oberflächliche Verletzungen des Auges genutzt wird. Die Gewebespende fördert den Heilungsprozess nach Zelldefekten und Geschwüren an der Hornhaut und dient zum Schutz und zur Schmerzlinderung.

Lucas‘ Erfahrung mit der Gewebespende

Anfangs hatte der 21-Jährige kein Sehvermögen auf seinem linken Auge. Mittlerweile kann er durch die AMT wieder Farbkleckse ausmachen. 

Während Amnionmembran-Transplantationen vergleichsweise häufig vorgenommen werden können – das Gewebe ist oft verfügbar, sodass der Eingriff in vielen Fällen ohne lange Wartezeit noch am selben Tag erfolgen kann – sieht es bei der Hornhaut anders aus: Auf ein geeignetes Transplantat musste Lucas fast drei Monate warten. Dann endlich bietet sich die Chance, seinem verletzten Auge durch die Operation ein Stück Sehvermögen zurückzugeben.

Dass er selbst einmal von einer Gewebespende profitieren würde, ahnt Lucas damals in der sechsten Klasse nicht, als er bei einem Schulausflug zum ersten Mal über Organspende und Gewebespende informiert wird – und sich entscheidet, einen Organspendeausweis mit sich zu tragen. Im Ausweis und auch im Organspende-Register wird auch die Entscheidung über die Gewebespende abgefragt. Heute, viele Jahre und mehrere Eingriffe später, weiß er genau, was dieser Entschluss bedeutet: „Ich war mir bewusst, dass die Hornhaut von jemand anderem stammt. Aber ich würde gern wissen, warum – was ist diesem Menschen passiert?“ Wie auch die Organspende ist die Gewebespende jedoch in Deutschland anonym. Die Dankbarkeit für die erhaltene Spende ist trotzdem groß. So groß, dass Lucas sich vorgenommen hat, bis zu seinem 50. Lebensjahr jede Operation auf sich zu nehmen, die auch nur eine kleine Verbesserung seiner Sehkraft verspricht.

Lucas ist weiterhin lebensfroh

Aus dem Unfall zieht Lucas nicht nur Schmerz, sondern auch wertvolle Erkenntnisse. Um der lebensfrohe und offene Mensch zu bleiben, der er immer war, steckt er sich neue Ziele – und nutzt seine Stimme. Auf TikTok teilt er seine Geschichte, macht anderen Mut und zeigt, dass selbst nach schweren Einschnitten ein selbstbestimmtes Leben möglich ist. Die Transplantation hat ihm nicht nur ein Stück Sehvermögen zurückgegeben, sondern auch neue Kraft und Hoffnung geschenkt. Er konnte seine Ausbildung erfolgreich abschließen – ein wichtiger Schritt zurück in ein normales Leben. „Mein Leben hat sich komplett verändert – in beide Richtungen. Aber so, wie ich jetzt lebe, fühlt es sich wirklich nach Leben an.“

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